2. Dezember 2016

Die Alterung zähmen – die TAME-Studie

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Es ist Kreuzblütler-Tag in der Nerd-WG. Dr. Sheldon Cooper stellt nach Analyse seiner voraussichtlich verbleibenden Lebenszeit fest, dass es ihm nicht vergönnt sein wird, den entscheidenden technischen Fortschritt zu erleben, der es ermöglichen wird, sein herausragendes Wissen in einen Roboter zu transferieren und so für die Nachwelt zu erhalten. Es folgt ein strenges Regime in Form von Ernährungsumstellung und kardiovaskulärem Training, um den Alterungsprozess hinauszuzögern. Im Laufe dieser „Big Bang Theory“-Folge nehmen Sheldons Bemühungen um ein gesundes Altern immer skurrilere Ausmaße an, bis er schließlich aus Angst vor Unfällen nur noch mittels eines robotergesteuerten Bildschirms mit der Außenwelt kommuniziert.

von Dr. med. Sarah Nagel

Den Genius eines Menschen für die Ewigkeit zu bewahren ist aber nur einer der Gründe für den Wunsch nach einem langen Leben. Allan Karlsson, der Hundertjährige aus Jonas Jonassons Erfolgsroman, hatte durchaus anderes im Sinn, als er vom Zimmer des Altenheims in die Rabatten und die dahinterliegende Freiheit sprang. Diesen Schritt verdankte der Hundertjährige nicht zuletzt einem altersgemäß guten Allgemeinzustand.

Doch was ist das Geheimnis der Hundertjährigen in geistiger und körperlicher Frische? Sind es Lebensstil- oder genetische Faktoren, die ein gesundes Altern begünstigen? Wissenschaftler beschäftigen sich seit langem mit dieser Frage und versuchen, dem Rätsel der Langlebigkeit auf die Spur zu kommen. Auch im Hinblick auf den zügig voranschreitenden demographischen Wandel rückt das Alter mehr und mehr in den Mittelpunkt medizinischer Forschung, um einer gleichzeitigen Vergreisung der Bevölkerung entgegenzuwirken.

So weisen Ergebnisse einer Studie (LGP1) der Forschergruppe um Nir Barzilai M.D., Professor für Endokrinologie und Genetik sowie Direktor des Instituts für Altersforschung am Albert Einstein College für Medizin in New York City darauf hin, dass ein gesunder Lebenswandel zwar wichtig und empfehlenswert ist, aber nicht den entscheidenden Unterschied ausmacht zwischen dem Erreichen einer durchschnittlichen Lebensdauer2 und dem Erleben des hundertsten Geburtstages. Viele der Hundert- oder fast Hundertjährigen (Alter 95 bis 112 Jahre), die an den Studien teilnahmen, alterten nicht nur langsamer, sondern auch gesünder und beschrieben dabei eine hohe Lebensqualität.

Die Auswertung der Lebensstilfaktoren jener Probanden ergab eine wenig vorbildliche Lebensführung: Mehr als 20% waren bereits im mittleren Alter übergewichtig, mehr als 90% Raucher. Sportler oder Vegetarier war keiner der Untersuchten.

Ein Blick auf die entsprechende Familienhistorie ließ bereits vermuten, dass Langlebigkeit von Generation zu Generation weitergegeben wird. Letztlich gelang durch Genanalysen ein wesentlicher Schritt, um das Phänomen des langsamen Alterns zu entschlüsseln: Zelluläre Alterungsprozesse laufen bei diesen Menschen verzögert ab und somit werden die mit dem Alter assoziierten Krankheiten auch nach hinten verlagert. Die Krankheiten, an denen die Hundertjährigen versterben, sind letztlich dieselben - mit einer Ausnahme: Diabetes trat bei den Hundertjährigen im Vergleich zur rund 30 Jahre jüngeren Kontrollgruppe um ca. ein Drittel seltener auf.

Die entscheidenden, eine Langlebigkeit begünstigenden Faktoren scheinen u.a. mit einem vorteilhaften Verhältnis der Lipoproteine (Cholesterintransporter3) im Blut und somit einem geringeren Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen assoziiert zu sein. Darüber hinaus erbrachten die genetischen Analysen zwei Mutationen im Gen für den IGF-1-Rezeptor4. Der IGF-Signalweg steht schon lange im Verdacht, die Lebenserwartung zu verlängern und vor altersbedingten Erkrankungen zu schützen.

Das sind ernüchternde Erkenntnisse für alle Normalsterblichen, die leider nicht über diese vorteilhaften Mutationen in ihrem Erbgut verfügen Es bliebe noch der regelmäßige Verzehr von Kreuzblütlern. Wäre es da nicht bequemer, statt Kohlgewächsen eine Pille gegen alle gängigen altersbedingten Erkrankungen einzunehmen? Ein Wundermittel mit gleichzeitiger Wirksamkeit gegen kardiovaskuläre Erkrankungen, Krebs, Typ-2-Diabetes und die Alzheimer-Krankheit?

die TAME-Studie

Noch ist es Zukunftsmusik, aber in den USA wurde im letzten Herbst eine revolutionäre Studie durch die Arzneimittelbehörde FDA genehmigt. Im Rahmen der sog. TAME-Studie5 („Targeting Aging With MEtformin“) soll untersucht werden, ob ein lange bekanntes und kostengünstiges Antidiabetikum das Altern verzögern kann und somit das Auftreten vieler, vorwiegend altersbedingter Erkrankungen. Niemals zuvor wurde „Anti-Aging“ als Studienindikation von einer Zulassungsbehörde für Arzneimittel anerkannt.

In der wiederum von Nir Barzilai geleiteten Studie sollen ca. 3000 Probanden im Alter von 64 bis 80 Jahren teilnehmen. Nach einer 18-monatigen Rekrutierungsphase wird der durchschnittliche Beobachtungszeitraum 45 Monate betragen. Neben dem Alter müssen die Probanden nur ein weiteres Kriterium erfüllen, um in die Studie eingeschlossen zu werden: Ihre Schrittgeschwindigkeit sollte unter 1m/s liegen.

Realistisch gesehen werden Individuen ohne jegliche Vorerkrankungen in dieser Altersgruppe eher eine Seltenheit sein, daher wird auch eingeschlossen, wer bis zu zwei der chronischen Leiden Krebs, Herzerkrankung oder leichte kognitive Einschränkung aufweist. Untersucht werden soll, ob Metformin das Fortschreiten dieser bestehenden Erkrankungen verzögern oder die Entwicklung einer zusätzlichen verhindern kann. Als Ausschlusskriterium hingegen gilt der manifeste Diabetes mellitus Typ 2, weil Metformin für diese Indikation bereits seit langem anerkannt ist, sowie eine bestehende Demenz oder eine unter Behandlung stehende Krebserkrankung.

Als primärer Endpunkt der Studie wurde die Zeit bis zum Auftreten einer der typischen altersbedingten Erkrankungen (kardiovaskuläre Erkrankungen, Krebs, Typ-2-Diabetes und Demenz) oder das Versterben der Patienten definiert. Die Studie soll voraussichtlich im Sommer 2017 anlaufen, eine ausreichende Finanzierung vorausgesetzt.

Der weit verbreitete und erprobte Wirkstoff Metformin aus der Gruppe der Biguanide hemmt v.a. die Neubildung von Glukose in der Leber. Metformin wird seit Ende der 1950er Jahre insbesondere bei übergewichtigen Typ-2-Diabetikern angewendet. Abgesehen von gastrointestinalen Beschwerden hat Metformin kaum Nebenwirkungen, sofern die Kontraindikationen beachtet werden. Teilnehmer der TAME-Studie sollen das Medikament in einer Dosierung von 1700 mg/Tag erhalten, aufgeteilt in ein oder zwei Dosen. Neben der bekannten Wirkung auf den Glukosestoffwechsel steht das Medikament nun im Verdacht weiterer Wirkungen, die sich die Forscher für die Langlebigkeit der Bevölkerung zunutze machen wollen.

Obwohl viele Organsysteme von einer diabetestypischen Durchblutungsstörung betroffen sein können, hängt die Lebensprognose der Diabetiker v.a. von einer Verengung der herz- und hirnversorgenden Arterien ab. Im Vordergrund stehen hier die koronare Herzkrankheit und der Herzinfarkt, sowie die Arteriosklerose der Hirnarterien mit der Gefahr eines Schlaganfalls. Einer englischen Studie („UKPDS“6) zufolge konnte im Zusammenhang mit der Einnahme von Metformin bei übergewichtigen Typ 2-Diabetikern eine Verringerung des Auftretens jeglicher diabetesbedingter Endpunkte (32%), diabetesbezogener Todesfälle (42%) und der Gesamtmortalität (36%) im Vergleich mit der konventionell diätetisch eingestellten Kontrollgruppe aufgezeigt werden.

Wie aber kamen die Forscher darauf, dass gerade dieses alte und lange bekannte Medikament auch Gesunden zu mehr Lebensqualität im Alter verhelfen, ja gar das Vergreisen an sich verlangsamen könnte?

In Tierversuchen konnten lebensverlängernde Effekte von Metformin bereits nachgewiesen werden. Bestimmte Mechanismen, die maßgeblich an der Zellalterung (zelluläre Seneszenz) beteiligt sind, bilden einen Angriffspunkt des Medikamentes. Darunter fällt auf molekularer Ebene die Aktivierung der AMP-Kinase, eines Schlüsselenzyms des Stoffwechsels, das die Energieversorgung der Körperzellen reguliert und dessen Aktivierung mit zunehmendem Alter abnimmt.

Dennoch bleiben die Ergebnisse der TAME-Studie abzuwarten. So wäre es denkbar, dass andere Faktoren, die bisher nicht berücksichtigt wurden, für die reduzierte Sterblichkeit, die Verringerung von Herzinfarkten oder das verminderte Krebsrisiko verantwortlich sind. Auch belastbare Daten zur Nutzen-Risiko-Bewertung im Hinblick auf Neben- und Wechselwirkungen bei Nicht-Diabetikern oder Gesunden stehen noch aus.

Allerdings könnte sich eine Bestätigung der Hypothese aus der TAME-Studie neben den beschriebenen individuellen Vorteilen ebenso positiv auf die Entwicklung der Gesundheitsausgaben sowie die Mortalität der Bevölkerung auswirken.

Ein Hundertjähriger, der sein Glück bei bester Gesundheit außerhalb des Altenheims sucht, wird bald vielleicht keine Seltenheit mehr sein.

Bis dahin ist Dr. Coopers Ansatz – wenn auch nicht in dieser Radikalität – eine sinnvolle Alternative. Gesunde Ernährung, ausreichender Schlaf, Vermeidung von Übergewicht, Stressreduktion, Nichtrauchen und Sport stellen weiterhin das Fundament für langjährige Gesundheit, ebenso wie ein funktionierendes soziales Netzwerk.

1) „Longevity Genes Project“, Albert Einstein College of Medicine
2) in Deutschland beträgt die durchschnittliche Lebenserwartung aktuell für Frauen 83,1 Jahre, für Männer 78,1 Jahre
3) geringer LDL-/HDL-Quotient, d.h. hoher HDL-, niedriger LDL-Cholesterinwert
4) „Insulin-like Growth Factor“
5) randomisierte, placebo-kontrollierte Doppelblindstudie
6) United Kingdom Prospective Diabetes Study